Die vorliegende Dissertation möchte den Boden bereiten für eine kritische Auseinandersetzung mit dem italianistisch-sprachgeschichtlichen Selbstverständnis als Geschichtsschreibung einer Sprache und schlägt einen Perspektivenwechsel vom »occhio bembizzato« (Quondam 1983, 657) hin zum erweiterten Blickfeld vor. In anderen Worten: nicht der Sonderfall Ein(zel)sprachigkeit, sondern der Normalfall Mehrsprachigkeit1 soll im Blickpunkt stehen. Anstatt die italienische Sprachgeschichte an wenigen kodifizierenden Druckwerken als entscheidenden Dreh- und Angelpunkten auszurichten und den Werdegang der italienischen Nationalsprache als »lingua da libro stampato« (Trifone 1993, 429) nachzuzeichnen, soll die Geschichte von kommunikativen Räumen, in denen die Druckwerke eingebettet und die den Druckwerken – insbesondere in den Paratexten – zum Teil metasprachlich ›eingeschrieben‹ sind,2 rekonstruiert werden.
Die zum Fluchtpunkt (v)erklärten Prose della volgar lingua (Bembo 1525, Venedig, bei Tacuino)3 von Pietro Bembo erweisen sich dabei selbst als ein geeigneter Ausgangspunkt, den besagten Perspektivenwechsel zu unternehmen. Bembos Prose werden als Meilenstein der italienischen Sprachgeschichte betrachtet:4 In seiner Einheit von Stilistik und Grammatik gilt der Dialogtraktat gemeinhin als das prototypische Druckwerk für Kanonisierung und Kodifizierung der toskanischen Literatursprache. Die Prose werden als Erfolgswerk der questione della lingua herausgestellt bzw. stereotypisiert, an dem sich der »neue Kodifikationsort Buchdruck« (Trifone 1993, 426) geradezu paradigmatisch aufzeigen ließe, so der Forschungstenor der italienischen Sprachhistoriografie (vgl. insb. Trifone 1993).
Das Werk an sich sowie seine Druckgeschichte lassen sich aber ebenso aus anderen als den herkömmlichen Blickwinkeln beleuchten und interpretieren, vor allem unter Berücksichtigung von Bembos eigener Sprachbiografie und Sprechermobilität5 sowie unter Einbeziehung der Rezipienten. So weist sich Bembo in seinem autoritativen Regelwerk nicht nur als vorbildlicher Literatur- und Sprachexperte des Alttoskanischen aus, sondern stellt sein Bewusstsein für Mehrsprachigkeit unter Beweis, welches sicherlich auch durch sein Griechisch-Studium in Messina (1492–1494), die enge Zusammenarbeit mit dem Gelehrtendrucker Aldo Manuzio in Venedig (1500–1505), die Aufenthalte an diversen norditalienischen Höfen, die übrigens auch sein Interesse für spanische Literatur und Dichtung weckten,6 und die Tätigkeit als Privatsekretär des Papstes in Rom (1513–1521) geschärft wurde. Hinter Bembos Theorem der Einheitssprache verbirgt sich in den Prose eigentlich ein originelles alt- und neusprachliches Mehrsprachigkeitsideal, auf das er intertextuell und durch die Polyphonie der Dialogpartner verweist (vgl. Maaß 2002).7 Aus der Sicht eines Mehrsprachigen legt Bembo überdies selbst Zeugnis über die existierende Sprachverschiedenheit der Halbinsel bzw. über den ›gelebten Kommunikationsraum‹8 ab:
[1] Percio che anchora che le genti tutte, le quali dentro a termini della Italia sono comprese, fauellino e ragionino Volgarmente; nondimeno ad un modo Volgarmente fauellano i Napoletani huomini; ad un’altro ragionano i Lombardi, a un’altro i Toscani; et cosi per ogni popolo discorrendo parlano tra se diversamente tutti gli altri. E si come le contrade, quantunque Italice sieno medesimamente tutte, hanno nondimeno tra se diverso e differente sito ciascuna; cosi le fauelle, come che tutte Volgari si chiamino, pure tra esse molta differenza si uede essere, e molto sono dissomiglianti l’una dall’altra. (Bembo 1525, XII)
Neben der diatopischen Sprachlandschaft diskutiert Bembo im ersten Buch, wenn auch nicht vertieft, die sprachliche Durchmischung und ›Sprachfluktuation‹ in Rom, deren »Cortigiana lingua, che s’era hoggimai cotanto inhispagnuolita, incontanente s’infranceserebbe; et altrettanto di nuoua forma piglierebbe« (Bembo 1525, XIII). Ebenso thematisiert er die eigene Sprachlichkeit, das heißt das muttersprachliche Idiom Venezianisch (Ders. 1525, XV) – um sich sodann von dieser nachteilig empfundenen Vielfalt »tra tante forme et quasi faccie di Volgari ragionamenti« (Bembo 1525, XII) abzugrenzen und sich in einem extrem engen und hohen distanzsprachlichen Diskursuniversum, dem der Dichtung, Distanz von der Nähesprache zu verschaffen. Bembo verfügt also über eine ausgeprägte individuelle, gelehrte Mehrsprachigkeit und perzipiert eine heterogene Sprecherrealität, die sich als literarische, territoriale, institutionelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit manifestiert. Den für ihn einzigen Ausweg aus dieser mehrsprachigen Situation stellt die Operationalisierung bzw. Normierung eines 200 Jahre alten, antiquierten Textkorpus für rein literarische Zwecke dar, die Burke als »an outsider’s over-identification« (Burke 2004, 58) diagnostiziert.9
Wechselt man von der werk- zur produktionsästhetischen Perspektive, mag besonders die Druckgeschichte der Prose erstaunen, insbesondere vor dem Hintergrund von Bembos hervorragenden Beziehungen zu den Druckdynastien Venedigs: das Druckwerk wird nach der von Papst Leo X., dem venezianischen Senat »et di tutti gli altri Stati et Signori della Italia, nelle cui terre libri si Stampano« (Bembo 1525, XCIIIIv) über einen 10-jährigen Zeitraum hochprivilegierten editio princeps im Quartformat erst wieder im Jahr 1538 und von Bembo autorisiert aufgelegt; dazwischen steht nur ein Nachdruck, 1549 erfolgt posthum die dritte und letzte Auflage. In Anlehnung an Trovato (Trovato 1990, 57) (der sich auf Quondam 1977 beruft) sei es erlaubt, ein drittes Mal die perplexe Frage aufzuwerfen, warum ein derart erfolggekrönter Text wie die Prose in dazu widersprüchlicher Weise wenige Auflagen erfuhr? Die Regole grammaticali della volgar lingua (Fortunio 1516) von Gian Francesco Fortunio, das Konkurrenzwerk zu Bembos mit Handbuchcharakter, können in dieser Hinsicht aufgrund zahlreicher unverzüglicher Nachdrucke in kleinerem Format als die erfolgreichere Grammatik gelten.
Nimmt man schließlich die rezeptionsästhetische Perspektive ein, ist die Tatsache von Belang, dass die Prose, die eine teure und anspruchsvolle Lektüre in buchstäblich großem Format für eine winzige Elite darstellten (vgl. Trovato 1990, 57f.; Ders. 2012, 111, 116), nicht nur im Original, sondern auch (zusätzlich) in anderer, vereinfachter Form für zeitgenössische Rezipienten mit teilweise anders gearteten Lese- und Schreibansprüchen zirkulierten. So wurden die grammatikalischen Grundzüge des dritten Buchs des Dialogtraktats indirekt über Alberto Accarisis erschwinglichere und konstant nachgedruckte Grammatica volgare (Accarisis 1536) oder »vari repertori alfabetici manoscritti« (Trovato 2012, 116) in Umlauf gebracht. Zwischen 1540 und 1541 konzipiert der Römer Luca Peto für diejenigen am römischen Hof, die »scienziati non sono« (zit. nach Bongrani 1989, 108), das handschriftliche Kompendium Intorno alla volgar lingua; zudem erschienen in Neapel 1569 und 1581 im Nachdruck Le prose di monsignor Bembo ridotte a metodo da m. M. Antonio Flaminio (vgl. Sabbatino 1986; Bongrani 1989). Die Exemplifizierung des vorbildlichen Sprachgebrauchs erfolgt schließlich nicht zuletzt über die in Gemeinschaftsarbeit mit Aldo Manuzio im Taschenbuchformat herausgegebenen Dante- und Petrarca-Ausgaben von 1501/1502 und Bembos eigenes Werk Gli Asolani (Bembo 1505).10 Im Laufe des 16. Jahrhunderts ist zudem eine veränderte Rezeption der einzelnen Bücher zu konstatieren: Zum Ende des Cinquecento verschiebt sich das Interesse vom dritten Buch, der Grammatik, hin zum zweiten Buch, der Rhetorik (vgl. Sabbatino 1986, 197f.).
Wie nur kurz aufgezeigt wurde, relativiert sich die Erfolgsgeschichte dieses mehrsprachigen Druckwerks folglich unter produktions- und wirkungsgeschichtlichen Aspekten – vor allem aber ist sie nicht die einzige Erfolgsgeschichte, die der Buchdruck hervorbringt. Dass der Traktat in der sprachgeschichtlichen Retrospektive als größter und hellster ›Stern‹ der »Gutenberg-Galaxis« (McLuhan 1969)11 in Italien isoliert observiert wird, führt dazu, dass die bisher circa 65.000–67.000 katalogisierten anderen cinquecentine (vgl. EDIT16 2014 bzw. USTC 2014) zu Unrecht überstrahlt bzw. in den Schatten gestellt sind. Diese Druckwerke wurden im mehrsprachigen Italien im 16. Jahrhundert teilweise für ein sehr viel größeres Publikum auf den Markt gebracht; sie bilden in der Summe ein weitaus realistischeres Abbild des Sprachenmarktes und somit das Kraftfeld der Gutenberg-Galaxis.
Die vorliegende Arbeit knüpft genau hier an: Der Buchdruck soll nicht als Instanz für Sprachnormierung und Gradmesser für die Toskanisierung, so wie bisher in der Sprachgeschichtsschreibung geschehen,12 sondern als Gradmesser für Mehrsprachigkeit betrachtet werden: Der Buchdruck ist demnach Indikator für die ›Buchfähigkeit‹, den Prestigewert und die ›Marktgängigkeit‹ bestimmter Sprachen, Varietäten, aber auch Diskursdomänen, er kann die ›quantitative Präsenz‹ von Sprachen und Varietäten sowie deren unterschiedliche Verteilung in Raum und Zeit anzeigen.
Als historische kommunikationsräumliche Konstellation für diese Perspektivierung wurde exemplarisch das so genannte spanische Italien gewählt:13 Bei Erscheinen der Prose befindet sich fast der ganze südliche Teil der italienischen Halbinsel sowie die beiden Inseln Sardinien und Sizilien bereits seit teils mehr als 20 Jahren unter direkter Verwaltungshoheit der spanischen Krone, die ihr Territorium im Lauf des Jahrhunderts in Italien auch im Norden ausweitet (Herzogtum Mailand) und letztendlich fast zwei Jahrhunderte beibehält (vgl. Abb. 1; Kap. 2.1).14 Allein die lange Dauer der spanischen Herrschaft und die damit einhergehende Präsenz von Spaniern in den einzelnen spanischen Territorien Italiens, die sich folglich als mehrsprachige Räume präsentieren, lassen auf unterschiedliche Kontaktsituationen schließen – wie intensiv dieser Sprachkontakt in welchen Kontaktfeldern auf gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Ebene zu welchen Zeiten und mit welchen sprachlichen Effekten und Folgen war, muss von Sprachhistorikern zum Großteil noch aufgearbeitet werden (vgl. Krefeld/Oesterreicher/Schwägerl-Melchior 2013).15 Eine Synthese zur Mehrsprachigkeit im spanischen Italien in seiner Gesamtheit fehlt infolgedessen gänzlich (vgl. Kap. 3).16
Wie sich der Sprachkontakt bzw. Mehrsprachigkeit in der Italia spagnola im Buchdruck widerspiegelt, das heißt in der gedruckten Schriftlichkeit belegen lässt, damit beschäftigt sich die vorliegende quellennahe Studie. Sie stellt daneben zwei gängige Thesen zur Diskussion: zum einen die der herausragenden Rolle Venedigs in der Produktion und im Vertrieb spanischer Bücher (vgl. Kap. 3.3.1), zum anderen diejenige der fehlenden sprachpolitischen Maßnahmen der spanischen Habsburger.17
Die diachrone und korpusgestützte Untersuchung analysiert spanische Druckwerke sowie zwei- und mehrsprachige Druckwerke als Resultate von Sprachkontakt, möchte aber auch die dahinterstehenden dynamischen Prozesse von Mehrsprachigkeit aufdecken18 und unbedingt die Kommunikanten selbst und ihre Sprecherurteile einbeziehen.19 Folgende, auf drei ineinandergreifenden Ebenen angesiedelte Fragen werden dabei erörtert:
1) auf der Ebene der (Buch-)Produktion: Wie schlägt Mehrsprachigkeit im spanischen Italien buchstäblich ›zu Buche‹? Inwieweit spiegelt sich sprachliche Distribution, insbesondere die der spanischen Sprache, quantitativ wider? In welchen Diskursdomänen wurde Spanisch wie häufig verwendet?
2) auf der Ebene der Sprachproduktion und Rezeption: Welche Kompetenzprofile der Produzenten (Autoren, Verleger, Drucker) und Rezipienten (Widmungsträger, Adressaten) lassen sich von einzelnen Druckwerken (Paratext20, Text) qualitativ ableiten? Welche systematische metasprachliche Tätigkeit bzw. zielgerichtete Mehrsprachigkeit in Form von Sprachlehrwerken ist nachzuweisen? Welche mehrsprachigen Praktiken sind anhand der Drucke zu rekonstruieren?
3) auf der Ebene der Sprachreflexion/Repräsentation: (Wie) wird über Zweisprachigkeit oder Mehrsprachigkeit reflektiert; (wie) wird sie thematisiert und bewertet? Wie konfigurieren sich im Sinne der perzeptiven Varietätenlinguistik (vgl. Krefeld/Pustka 2010; Dies. 2010a)21 der Kommunikationsraum und die ständige Erfahrung der spanischen Sprache im Bewusstsein der Kommunikanten?
In den folgenden sechs Kapiteln soll also der Hispanisierungsgrad des spanischen Italien anhand der quantifizierten gedruckten Schriftlichkeit ermittelt und anhand einzelner Druckwerke und ihrer Paratexte die Praktiken von Mehrsprachigkeit, die Einstellungen gegenüber der spanischen Sprache sowie bewusst gewordene Sprachproblematik diskutiert werden.
Zu Beginn (Kap. 2) soll der historische Hintergrund sowohl der spanischen Herrschaft als auch des Buchdrucks in Italien zwischen 1500 und 1707 aufgerollt werden: In groben Zügen werden die geschichtlich-politischen Ereignisse sowie die spanische Präsenz und deren gesellschaftliche Einflüsse im Herrschaftsbereich der Habsburgermonarchie auf italienischem Boden beleuchtet (Kap. 2.1). Ebenso werden die Vorgänge und (sprachlichen) Entwicklungen der neuen Drucktechnologie, die sich in Italien besonders im Cinquecento zur vollen Blüte entfaltet, chronologisch skizziert (Kap. 2.2).
An den historischen Überblick schließt sich die Forschungsdiskussion an (Kap. 3), die dazu dient, traditionelle und neue Forschungsrichtungen der Sprachgeschichtsschreibung in Bezug auf die gegebenen Fragestellungen kritisch zu reflektieren. Im Detail geht es darum, welche einseitige Rolle dem Buchdruck aus der klassisch-teleologischen Sichtweise zugeschrieben und welches Potenzial dabei verkannt wird (Kap. 3.1). In Analogie dazu wird der Forschungsstand zum italienisch-spanischen Sprachkontakt, der sich bisher hauptsächlich auf den »spagnolismo letterario« (Beccaria 1968, 257–322) und lexikalische Einflüsse beschränkte, rekapituliert, um im Anschluss ebenfalls aufzuzeigen, welche innovativen Potenziale sich aus einer kommunikationsraumbasierten Perspektive im Allgemeinen und im Besonderen für die vorliegende Arbeit ausschöpfen lassen (Kap. 3.2 und Kap. 3.3).
Nach dem Forschungsaufriss und den Zielformulierungen wird das methodische Vorgehen diskutiert, mit dem die Untersuchung Mehrsprachigkeit zu modellieren versucht wird (Kap. 4). In Kapitel 4.1 wird der methodische Ansatz dargelegt, der aus einem sowohl quantifizierenden als auch qualifizierenden Auswertungsverfahren besteht. In Kapitel 4.2 wird die Notwendigkeit der Erstellung eines eigenen Recherche-Instrumentariums erläutert, die sich vornehmlich aus der unzulänglichen Katalogisierungssituation und -tradition ergab. Kapitel 4.3 beschreibt das der Arbeit zu Grunde liegende Korpus in Form der entworfenen Titel-Datenbank TISIT16–17, aus dem aufschlussreiche und vergleichbare statistische Ergebnisse, die zugleich als repräsentativ gelten können, gewonnen wurden. Kapitel 4.4 informiert über die Auswahlkriterien sowie über die potenziellen Fehlerquellen der Datengewinnung; ferner wird das qualitative Vorgehen exemplifiziert.
Anschließend liefert das fünfte Kapitel die Datenanalyse des Gesamtkorpus, indem im Einzelnen die sprachliche, die geografische und die diskursdomänenspezifische Distribution der spanischen Druckwerke und der zweisprachigen Übersetzungen präsentiert werden.
Für die Detail analyse von spanischer bzw. mehrsprachiger Buchproduktion, -rezeption und -reflexion wurden vier Kommunikationsräume ausgewählt (Kap. 6): die zwei Inseln Sardinien und Sizilien und die zwei Metropolen Mailand und Neapel (Kap. 6.1, Kap. 6.2, Kap. 6.3, Kap. 6.4; vgl. Abb. 1). Die Beschränkung auf diese vier Teilkorpora scheint angezeigt, da sie alle vier unter direkter Herrschaftsausübung der spanischen Habsburger standen, von ihrer räumlichen Ausprägung und Sozialstruktur und nicht zuletzt von ihrem Profil als Druckorte bzw. Druckzentren aufschlussreiche Vergleichsfälle präsentieren. Zudem sind Mailändisch, Neapolitanisch und Sizilianisch bezüglich ihres erreichten Ausbaugrads vergleichbar, da sie nach Muljačić drei (von insgesamt sechs) so genannten lingue medie darstellen, das heißt Sprachen, die dominiert wurden und gleichzeitig selbst dominierten (zum Beispiel Muljačić 2011).22 Die Einbeziehung des norditalienischen Territoriums der spanischen Habsburger bietet zudem die bislang im Gegensatz zum Mezzogiorno eher vernachlässigte Perspektive (ob komplementär oder bestätigend).23 Venedig bleibt aufgrund seines Status als Druckkapitale während der Einzelanalysen eine wichtige Bezugsgröße, jedoch wurde auf ein eigenes Teilkorpus verzichtet, da die Lagunenstadt nicht unter spanischer Einflusssphäre stand. Überdies sind einige, obgleich nicht alle hier interessierenden Fragestellungen von der Forschung für Venedig bereits beantwortet worden (zum Beispiel Meregalli 1974; Pallotta 1991) – diese Befunde werden daher vielmehr im Vergleich auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden (vgl. Kap. 3.3.1, Kap. 6.5.1.1).
Der Aufbau der Einzelkapitel erfolgt dabei stets ungefähr nach derselben Struktur: Nach einer kurzen Vorstellung des sprachgeschichtlichen Forschungsstands werden, falls vorhanden, zeitgenössische Perspektiven über Sprecher und Sprachen eingenommen, um abzugleichen, wie Linguisten- und Sprechermeinungen interagieren. Sodann steht die Auswertung der Korpusdaten des jeweiligen Kommunikationsraums nach geografischer, sprachlicher und diskursdomänenspezifischer Distribution im Vordergrund. Einzeln betrachtet werden im Anschluss ausgewählte ein-, zwei- und mehrsprachige Druckwerke sowie nach Möglichkeit deren Paratexte, welche neben den Lese- und Kaufinteressen potenziellen Aufschluss über die Sprachkompetenz und das Sprachbewusstsein der Kommunikanten geben. Schließlich soll ein Blick in die Sprachreflexion helfen, zu verstehen, ob und wie jeweils fremde und eigene Sprachen und Varietäten verwendet, wahrgenommen und bewertet wurden.
Kapitel 6.5 stellt schließlich die jeweiligen empirischen Befunde der vier Teilkorpora einander gegenüber. Hier werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vier Kommunikationsräume auf den drei Ebenen der Produktion, Rezeption und Sprachreflexion, auch in Relation zu bestehenden Forschungsergebnissen, erörtert. Dabei mündet die Analyse der vier Einzelfälle in einer Typologie: Die Fallrekonstruktionen belegen im Vergleich, dass Sardinien den Ausnahme- bzw. Extremfall von Mehrsprachigkeit und Hispanisierung darstellt, während sich die anderen drei Territorien zu einem zweiten Typus bündeln – sie lassen sich als buchstäbliche Normalfälle einstufen.
Das letzte, sowohl resümierende als auch für die weitere Forschung impulsgebende Kapitel (Kap. 7) dient zunächst der kritischen Einschätzung der eigenen Forschungsergebnisse und der Diskussion offener Fragen. In einem Ausblick werden schließlich die vielfältigen Anknüpfungspunkte erörtert, welche die Arbeit und das erstellte Grundlagenkorpus für mögliche weiterführende sprachhistorische, aber auch interdisziplinäre Studien bieten.
1 »Tatsache ist, daß die Mehrheit der Menschheit mehrsprachig ist und/oder in mehrsprachigen Gesellschaften lebt […]. Ein Blick auf die Geschichte zeigt, daß alle großen Reiche der Vergangenheit mehrsprachig waren. Entsprechend verbreitet war auch die individuelle Mehrsprachigkeit […]. Nicht die Einsprachigkeit, sondern die Mehrsprachigkeit stellt den Normalfall dar, Einsprachigkeit ist ein kulturbedingter Grenzfall von Mehrsprachigkeit und Zweisprachigkeit eine Spielart der letzteren.« (Lüdi 1996, 234). Zur anthropologischen Grundannahme des ›muttersprachlich mehrsprachigen Menschen‹ vgl. Wandruszka 1979.
2 Auch in diesem Punkt stellen Bembos Prose übrigens ein atypisches Druckwerk dar, denn außer eines Erratums und Druckprivilegs entbehren sie jeglicher paratextueller Bausteine, etwa einer Widmung, eines auktorialen Vorwortes oder eines Lobsonetts auf den Autor, die unter Umständen Rückschlüsse vor allem auf die Rezipienten erlauben würden. Der Titel allein sollte wohl für sich sprechen (das Titelblatt ist ungewöhnlich schlicht gehalten, da es lediglich den Titel in Kapitälchen enthält; es erinnert an die durch die Sparsamkeit der Mittel gekennzeichnete Ära der Handschriften. Zur kritischen Edition vgl. Bembo [1525] 2001.
3 Vgl. Bembo 1525, Permalink: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10142586-3 (Zugriff vom 18.08.2014).
4 So definiert Marazzini die Prose della volgar lingua als »il più importante trattato di lingua del secolo, e forse il più importante di tutta la tradizione italiana« (Marazzini 1999, 35); Trovato sieht in ihnen das »libro-simbolo del classicismo cinquecentesco« (Trovato 2012, 111); nach Reutner/Schwarze markieren sie einen »wichtigen Einschnitt in der Geschichte der italienischen Literatursprache« (Reutner/Schwarze 2011, 121).
5 Vgl. Dionisotti 1966, URL: http://www.treccani.it/enciclopedia/pietro-bembo_%28Dizionario-Biografico%29/ (Zugriff vom 07.07.2014).
6 Bembos »ispanismo« macht sich in den ersten vier Dekaden des 16. Jh.s in seinem Briefverkehr, seinen Dichtungsversuchen in spanischer Sprache und nicht zuletzt im iberoromanischen Bestand seiner Privatbibliothek bemerkbar, vgl. Danzi 2005, 77–87.
7 Maaß deckt den innovativen Charakter der Position Bembos wie folgt auf: »Er [Bembo; T.A.] stellt ein Modell für das Schreiben in der volgar lingua auf, das sich konsequent an den Forderungen für hochkonnotiertes Schreiben in lateinischer Sprache ausrichtet. Die ›italienischen Klassiker‹ werden so zu Garanten für die vorbildliche Sprache, ebenso wie die ›lateinischen Klassiker‹ Garanten des vorbildlichen Schreibens in lateinischer Sprache sind. Bembo schreibt für Adressaten, die sich in beiden Sprachen bewegen. Er ruft sie zu einem mehrsprachigen Schreiben auf, das für beide Sprachen vergleichbaren Kriterien unterliegen soll […]. Konservativ erscheint seine Position lediglich in einem einsprachigen Kontext, wie ihn die nationalphilologische Sprachgeschichtsschreibung vorgibt und wie er bis heute immer wieder evoziert wird. Mehrsprachigen Autoren wie Bembo und seinen Adressaten wird man damit jedoch nicht gerecht.« (Maaß 2002, 117f.). Kursivierung im Original, dies betrifft auch alle folgenden Kursivierungen aus Primärquellen und aus der Sekundärliteratur dieser Arbeit.
8 Vgl. zu diesem Konzept Krefeld 2004a, 19f.; Ders. 2002a.
9 »From the regional point of view, Bembo was something of an oddity. A Venetian living in Rome, the variety of language he promoted was Tuscan. This looks like one of many cases of an outsider’s over-identification with a norm.« (Burke 2004, 98).
10 Vgl. hierzu Trabant 2001, 37f. und auch die Bemerkung von Krefeld (in Anlehnung an Mehltretter 2009): »Die Mediatisierung hat den entscheidenden Beitrag zur Kanonisierung der Trecentoliteratur geleistet.« (Krefeld 2011, 270).
11 Dieser mittlerweile zu einem locus communis avancierte Begriff geht auf den Medientheoretiker McLuhan zurück, der die »Gutenberg Galaxy« in seinem viel zitierten, gleichnamigen Buch von 1962 selbst als »configuration […] of events and actions associated with the Gutenberg technology« (McLuhan 1962, 139) definiert. Tholen fasst darunter McLuhans Analyse »der medialen Zäsur des Buchdrucks, genauer der kulturellen und sozialen Folgen des Informationsaustausches qua drucktechnischer Vervielfältigung des Buches wie unter anderem: Säkularisierung, horizontales Weltverständnis, Verbreitung bzw. Verstärkung des Nationalbewußtseins, Erzeugung anonymer Öffentlichkeit, Pädagogisierung des innengeleiteten stillen Lesers […].« (Tholen 2005, 161). Zur Begriffs-, Theorie- und Rezeptionsgeschichte vgl. Höltschl 2005, 77–81 und Kloock/Spahr 2012, 33–76.
12 Die durch den Buchdruck erst ermöglichte Standardisierung soll in keinem Fall in Abrede gestellt werden, vgl. auch die Ausführungen von Krefeld zur »bis heute andauernden medialen Phase der italienischen Sprachgeschichte« (Krefeld 2011, 272).
13 Den Terminus »spanisches Italien« schuf erst die neuere Geschichtsschreibung, vgl. Anatra/Musi 1994; es muss darauf hingewiesen werden, dass damit eine weder institutionell noch administrativ existierende Homogenität der unter Spanien stehenden italienischen Regionen impliziert ist, vgl. Muto 2007, 251 und 254; Peytavin 2007, 355f; vgl. auch Kap. 2.1.
14 Auch an Bembo geht, wie erwähnt, der spanische Einfluss der spanischen Literatur- und Poesiesprache in Italien im Primo Cinquecento nicht vorbei (vgl. Kap. 1, Anm. 6), vgl. Danzi 2005 und Mazzocchi 1989.
15 Oesterreicher spricht in Bezug auf das Königreich Neapel bezeichnenderweise von einem »territorio sin explorar« (Oesterreicher 2007, 218, URL: http://www.revistas.pucp.edu.pe/index.php/lexis/article/download/9189/9599 [Zugriff vom 10.07.2014]) und auch für Michel ist die hispanophone Literatur Siziliens »un campo quasi inesplorato« (Michel 1996, 77).
16 Die Parameter für diesen pränationalen Kommunikationsraum gibt Krefeld vor (Krefeld 2013). Verlässt man die Grenzen des Halbstiefels, so stellt überdies die ganzheitliche Darstellung der Mehrsprachigkeit in der spanischen Habsburgermonarchie im 16. und 17. Jh. ein Forschungsdesiderat dar (vgl. Kap. 7.2). Einzig Büschges vergleicht die Königreiche Valencia, Neapel und Neu-Amerika unter sprachpolitischen Aspekten der spanischen Krone (Büschges 2007).
17 Vgl. Büschges 2007; Mazzocchi 2004, 310; Lo Piparo 1987a, 742.
18 Vgl. hierzu auch Wandruszka, der betont: »Mehrsprachigkeit ist kein Zustand, sondern ein Vorgang […].« (Wandruszka 1979, 76).
19 Gemäß Krefeld sei »la sfida più impegnativa per la storiografia linguistica [è] sicuramente quella di rivalorizzare radicalmente il locutore, o meglio, i locutori coinvolti nella produzione delle testimonianze: l’autore, lo scrivente, il copista, perfino lo stampatore.« (Krefeld 2013, 8).
20 Unter Paratext wird in der vorliegenden Arbeit die Definition von »Peritext« nach Rautenberg verstanden: Peritexte im weiten Sinn sind alle Beitexte im Umfeld eines Textes, die aber nicht Teil von diesem sind, wie Titel, Widmung, Vor-/Nachwort, Inhaltsverzeichnis etc. Zu Peritexten im engeren Sinn gehören verlegerische Entscheidungen über die materielle Zirkulationsform des Buches wie Buchformat, Auflagenhöhe etc. (vgl. Rautenberg 2003, 394f.).
21 Krefeld/Pustka diskutieren den vernachlässigten Begriff der Perzeption in der Linguistik, vor allem in Abgrenzung zu dem der Repräsentation (Krefeld/Pustka 2010a, insb. 11–16, URL: http://www.romanistik.uni-muenchen.de/downloads/links_personen/krefeld/3_einleitung.pdf [Zugriff vom 10.07.2014]). Während Perzeption »dem Bereich des Sprechens in einer realen kommunikativen Situation (parole)« angehöre, seien Repräsentationen »ein Teil des Sprachwissens (langue), weswegen sie auch unabhängig von konkreten Perzeptionen abgerufen werden können. Während die Perzeption also untrennbar von der Sprachproduktion ist, können Repräsentationen […] auch außersprachlich motiviert sein. Gegenstand einer perzeptiven Varietätenlinguistik im strengen Sinne sind nur die auf der aktuellen Perzeption basierenden Repräsentationen.« (Krefeld/Pustka 2010a, 14). Die Applikation der Begrifflichkeiten in der Diachronie unterblieb bisher fast gänzlich (vgl. Krefeld/Pustka 2010, dort insb. Gruber 2010).
22 Muljačić versucht die Verhältnisse der lingue medie in Bezug zur dominierenden lingua alta, dem Toskoitalienischen, im Verhältnis zueinander sowie in Relation zum Französischen in Norditalien bzw. zu den zwei iberoromanischen Sprachen Katalanisch und Spanisch, die zusammen mit dem Neapolitanischen und Sizilianischen ein »quartetto meridionale« bilden würden, vom 16. bis 19. Jh. nachzuzeichnen (Muljačić 2011), vgl. auch das Abstract von Muljačić 2000, URL: http://www.culingtec.uni-leipzig.de/SILFI2000/abstracts/papers/Muljacic_co121.html (Zugriff vom 10.07.2014).
23 So moniert Danzi ein vor allem vom (Sprach-)Historiker Benedetto Croce herrührendes Stillschweigen über Norditalien: »Sardegna e Sicilia a parte, è da sempre stato notato il silenzio crociano sull’Italia settentrionale e in particolar modo sulla Lombardia in atto di diventar spagnola.« (Danzi 2005, 79); vgl. auch die entsprechenden Unterkapitel zum Forschungsstand Kap. 6.3.1 und Kap. 6.4.1.